Das Hohelied der Liebe
Aus dem Büchlein von Helmut Gollwitzer: "Das hohe Lied der Liebe" 1978 Chr. Kaiser Verlag München
Die Jahrtausende alte Norm
Nur die legale Sexualität ist gottwohlgefällig, die illegale ist Unzucht und Sünde
Diese alte Norm ging aus von der Prämisse: An sich ist die Sexualität etwas Negatives, eine Fessel des Geistes nach unten, wenn nicht an sich sündig, so doch jedenfalls tierisch. Nach Auffassung der mittelalterlichen Theologie, aber auch noch Luthers, ist mit der sexuellen Lust die Weitergabe der Erbsünde von Generation zu Generation verbunden. Weil zugleich in seinen Wirkungen oft genug sehr destruktiv für geordnetes Zusammenleben (man denke an Rivalität und Eifersucht bis zum Mord!), war der Geschlechtstrieb vor allem Gegenstand der Überlegungen, wie man ihn dämpfen und kanalisieren und kontrollieren könne. Eben dazu mußte man ihn diffamieren und seine Betätigung auf kontrollierte Bereiche einschränken. Dazu brauchte man die Religion, und die christliche Kirche machte hierbei eifrig mit, auch hier im Dienst der bestehenden Gesellschaftsordnung, die an der legalen Vererbung von Besitz und Privilegien interessiert war. Die Kirche half dazu, indem sie a) den Sexus diffamierte und b) als erlaubtes Betätigungsfeld für ihn die von ihr kontrollierte Zweierbeziehung, genannt Ehe, anbot als remedium peccati (Heilmittel für die Sünde) und als Gelegenheit, legale, d. h. erbberechtigte Nachkommen zu zeugen. Mit diesem Dienst für die bestehende Gesellschaftsordnung sicherte sich die Kirche zugleich ihre eigene Herrschaft; denn die Diffamierung eines so kräftigen Naturtriebes mußte natürlich lebhafte Schuldgefühle erzeugen, die die Menschen in die Beichtstühle trieb. Für die Stillung dieser Schuldgefühle war allein die Kirche durch das Sakrament der Absolution zuständig, darum unentbehrlich und bekam so ein unschlagbares Mittel der Beherrschung und Kontrolle der Seelen und auch der Köpfe. Der herrschenden Gesellschaft konnte das nur recht sein; denn die mit diesen Mitteln herrschende Kirche erzog die Menschen zur Untertänigkeit, zur Bejahung des Herrschaftssystems, und so wusch eine Hand die andere.
Das geschlechtliche Begehren ist gute Gabe Gottes
Die Entdeckung des Hohenliedes könnte ein Anlaß sein zu finden: der Bann der alten kirchlichen Sexualmoral ist gebrochen, ebenso die Filzokratie von Kirche und Gesellschaftsmächten, und durch das Hohelied sagt die Bibel Ja!
Wenn in der Geschichte alte Fehlentwicklungen erkannt und verlassen werden, so bieten sich zwar neue, bessere Möglichkeiten an; damit kommt aber noch nicht das Reich Gottes. D. h. die jüngeren heute lassen zwar jahrhundertealte Probleme und Verkrampfungen und Heucheleien hinter sich, aber sie handeln sich, wie heute schon am Tage ist, mit der neuen Freiheit auch neue Probleme ein. Was kann zu deren Bewältigung das Hohelied beitragen? Zuerst die Aufforderung an die Älteren, d. h. an alle, die noch in der Erbschaft der traditionellen Auffassung von der Sexualität mit all ihren Abers und Vorbehalten und Ängsten und Vorschriften stehen: irgendetwas Hilfreiches für euch selbst und für die Jüngeren könnt ihr nur dann sagen und tun, wenn ihr forthin mit dem Ja anfangt und nicht mehr mit dem Nein, auch nicht gleich dem Ja das Aber folgen laßt: »Ja, wir sehen ja ein, daß es sich hier nicht um Sündiges, sondern um Schöpfung handelt, aber es ist doch etwas sehr Gefährliches, und man kann da doch nicht einfach alles gutheißen, und man muß doch für eine strenge Ordnung sorgen, und das sechste Gebot muß doch wieder eingeschärft werden« usw. Hinter diesem Ja—Aber steht jener heimliche Hader mit Gott, der die ganze traditionelle Sexualethik durchzieht: eigentlich hätte der liebe Gott die Fortpflanzung der Menschheit doch auf eine weniger unanständige und weniger leidenschaftliche Weise vor sich gehen lassen können; wären wir Schöpfer, wir hätten das besser gemacht. Weil es nun aber von Gott so eingerichtet ist, müssen wir sehen, wenigstens Schlimmeres zu verhüten, indem wir die Sexualität in die Regie unserer Normierung und Legalisierung nehmen. Das Fazit der Erziehung in diesem Geiste sprach eine mir bekannte Frau aus, als sie zu ihrer Tochter vor deren Hochzeit sagte: »Wenn man einen Mann liebt, erträgt man auch das!«
Die Sexualität ist in uns hineingelegt, damit wir sie als einen herrlichen und spezifischen menschlichen Reichtum unseres Lebens erkennen.
Dieser Partner ist nicht auswechselbar
Was kann das Hohelied, das Lied einer nichtlegalisierten Liebe, denen sagen, für die der Unterschied zwischen legaler und illegaler Liebe und die Diskriminierung der illegalen Liebe hinfällig geworden sind? Wenn sie es genau lesen, werden sie es nicht lesen als einen Freibrief zum unbekümmerten Ausleben der Sexualität; sie werden hier einige Orientierungen finden für das Leben in der heutigen Freiheit.
Der Ausdruck der Liebe, zeigt die Gerichtetheit auf die Person des Partners. Dieser Partner ist nicht der auswechselbare Repräsentant des anderen Geschlechts, also doch nur Sexualobjekt; er ist das nicht-auswechselbare einmalige Du, gerade dieser Vertreter des anderen Geschlechts und kein anderer. Nur diese Frau, nur dieser Mann wird geliebt: Wieviel königliche Frauen und »Mädchen ohne Zahl« auch dem König in seinem Harem zur Verfügung stehen - »eine ist meine Taube« (6,8 f), so bekennt er - und sie ist da nur für ihn, »den meine Seele liebt« (1,7; 3,2-4). Diese fleischliche Liebe ist ganz personhafte Liebe, und diese personhafte Liebe ist ganz fleischliche, sinnliche Liebe. Gerade die frühere Diffamierung des Sexus hat hier getrennt: auf der einen Seite die nur geistige Liebe, nur auf die Person gerichtet, auf der anderen Seite die nur fleischliche Triebbefriedigung mit dem andern als Mittel zum Zweck; und das wiederholt sich auch heute in wahlloser Promiskuität, ohne daß es zur Vertrautheit vom Du zum Du, zur Erlösung aus der Einsamkeit kommt. Darauf aber ist die Geschlechtsliebe gerichtet: auf das Vertrautwerden zweier Menschen in der Ganzheit der leiblich-geistigen Begegnung. Ob das Zusammensein und das Zusammen-schlafen dahin tendiert, ist jedesmal die Frage, die mindestens als Frage dabei lebendig sein soll. Nicht als neues repressives Verbot ist das gemeint, nicht als eine Bedingung, ohne die man nicht darf; aber erst die Hoffnung, es entstehe mehr als nur das Vergnügen zweier Leiber, gibt dem Zusammensein die Möglichkeit der liebenden Freude und macht den Partner zum unverwechselbaren Du, der mein Leben bereichert und aus dem Egoismus herausführt. Einander lieben, so viel wir können, nicht aber so oft wir können......
setzte mich wie ein Siegel auf dein Herz...... Liebe ist stark wie der Tod. (Hohelied 8.6)