Ein Flug mit zwei Seiten

Ich sitze im Flieger nach Zypern und 4 Stunden Flug liegen vor mir. Meine linke Schulter ist immer noch nicht intakt und schmerzt bei jeder Armhebung. Vor einer Woche fingen die Schmerzen schlagartig an, so stark, dass ich nicht mehr schlafen konnte und dies trotz Schmerzmedikamenten. Eine Woche vor meinen Strandferien mit meiner Familie, super! Glücklicherweise hatte ich kurzfristig noch einen Platz für ein Schulter-MRI erhalten, wobei sich zeigte, dass Kalkablagerungen wahrscheinlich diese unerträglichen Schmerzen auslösten. Bin ich nun mit 42 Jahren schon so weit, dass ich wie eine alte Waschmaschine „entkalkt“ werden muss? Sind dies tatsächlich erste Alterserscheinungen? Ist das der Anfang vom Ende? Wo stehe ich dann in 20 Jahren?! All diese Fragen lösen Ängste vor dem Altwerden in mir aus und der Blick auf meine Zukunft fällt mir schwer. Das Thema Midlife-Krise, welches mich seit einiger Zeit schon beschäftigt, bekommt wieder neue Nahrung und einen neuen Stellenwert. Wie auch immer, mein Hausarzt verpasste mir kurz und bündig eine Kortison-Spritze mitten ins Gelenk und meinte, in 3 Tagen würde der Kalk durch das Kortison regelrecht aufgelöst sein. Bis zum Abflugtag nach Zypern hatte sich jedoch der Zustand meiner Schulter nicht verbessert und ich wusste nicht, was ich von diesem Urlaub erwarten sollte.

Der Flieger hebt ab und müde lege ich meinen Kopf zur Seite. Die vergangene Woche hat mich wieder mal zu stark herausgefordert und mit meiner Hochsensibilität bin ich wieder mal an meine Grenzen gestossen. Ich bin erschöpft, meine Gefühlswelt ist durchgeschüttelt und mein nervlicher Zustand bewegt sich auf dünnem Eis. Wieder mal ist mir die eigene Kontrolle und Sicherheit entglitten, welche mir immer noch so wichtig zu sein scheint. Ich wusste nicht mehr was ich erwarten kann und musste den Moment so akzeptieren wie er ist. Solche Momente fühlen sich einfach deprimierend an und erinnern mich an das Leiterspiel, wo man Würfelt, auf das falsche Feld kommt und auf einmal wieder die Leiter runter rutschen muss… zurück auf Feld 1!

Während dem Flug schrecke ich plötzlich auf. Meine linke, angeschlagene Schulter zuckt, zieht und kribbelt. Das Kribbeln breitet sich langsam in meinen linken Arm aus, bis in die Hand. Was läuft den nun hier ab?! Ich merke wie sich lähmende Angst in mir ausbreitet. Ziehen und Kribbeln im linken Arm… tritt dies nicht auch bei einem Herzinfarkt auf? Nun kommt Panik in mir auf und ich fühle mich wie gefesselt in meinem Fliegersitz und weiss, dass ich in diesem Moment nirgends hin flüchten kann. Ich bin Gefangen in diesem Flieger! Alles dreht sich in mir und ich habe das Gefühl, dass ich nun gleich Bewusstlos werde. Fragen kreisen durch meinen Kopf und blähen sich auf und scheinen meinen Verstand zum Platzen zu bringen: Was ist, wenn ich tatsächlich einen Herzinfarkt habe? Was ist, wenn der Flieger notlanden muss? Was ist, wenn dies alles nur eine Panikattacke ist? Wie peinlich, wenn dann der Flieger aus diesem Grund wegen mir notlanden müsste! Was denken die anderen Passagiere über mich? Sehen die mir an, wies mir gerade geht? Was wäre, wenn ich nun auf einmal unter Flugangst leide und nicht mehr Flugzeug fliegen könnte? Wie komme ich dann von Zypern wieder „sicher“ nach Hause? Was wäre, wenn ich später einmal wieder geschäftlich irgendwo hinfliegen müsste und es würde einfach nicht mehr gehen…? Was wäre wenn, was wäre wenn, was wäre wenn…?

Meine Frau hat meinen verzweifelten Zustand ebenfalls mitbekommen und macht intuitiv das Richtige: Sie hält einfach meine Hand, hört mir zu und schenkt mir Annahme. Ich fühle mich nicht mehr alleine mit mir und genau dies tut einfach so gut in diesem Moment!

Nach 4 Stunden Flug lande ich total erschöpft in Zypern. Ich bin gelandet, angekommen in diesem neuen Land und lebe immer noch. Schlussendlich hatte dann mein ganzer Körper im Flieger gekribbelt und innerlich gezittert und ich war kurz davor, mich in eine Hyperventilation zu steigern. Doch nun sind wir wieder sicher am Boden und ich werde ruhig. Ich versuche einzuordnen was auf diesem Flug nun wirklich vorgefallen ist, finde aber keine Antwort. Was war nun effektiv körperlich geschehen und was war einfach psychosomatisch ausgelöst? Auf jeden Fall musste die vergangene Woche mit all seinen nervlichen Belastungen Spuren hinterlassen haben.

Im Strandhotel angekommen, bin ich einfach froh, dass ich nicht mehr weitermuss. Ich versuche alles abzulegen, was in den vergangenen Stunden vorgefallen ist, ohne nun Antworten finden zu müssen. Ich versuche wieder nach vorne zu schauen, auf die 12 Tage Strand, Meer, Sonne und viel wohltuende Wärme! Eigentlich wollte ich wieder mal Windsurfen und Tennis spielen, doch die Schulter… Ja, was ist nun eigentlich mit meiner Schulter? Ich hebe vorsichtig, zurückhaltend und langsam meinen linken Arm. Keine Schmerzen, tatsächlich keinen Schmerz mehr! Ich kann es fast nicht glauben! Ich hebe meinen Arm nun mutiger in alle Richtungen. Es geht! Nach dem Tiefflug der letzten Stunden habe ich nun den Eindruck, dass ich gerade gewaltig beschenkt werde. All der Schmerz dieser Woche ist scheinbar auf einen Schlag verflogen.

Nun spielt es gar keine Rolle mehr was kommt, denn es fühlt sich einfach gut an, wieder frei zu sein! Ich werde diesen Urlaub noch mehr geniessen können, als ich mir je vorgestellt hatte. Dankbar, dass ich mich wieder schmerzfrei bewegen kann. Schlussendlich war ich sogar auch Surfen, jedoch nur in Gedanken… Aber es wäre auf jeden Fall möglich gewesen, doch diesen Traum spare ich mit für ein anderes Mal auf. Der Rückflug machte mir noch ein wenig Sorgen, doch vor dem Abflug sagte ich mir fatalistisch: „Wenn ich auf diesem Flug sterben werde, dann muss es einfach so sein. Punkt. Und dann flog ich völlig entspannt wieder nach Hause…

Fazit

Zwei Seiten eines Fluges mit so unterschiedlicher Auswirkung! Einerseits schien auf diesem Hinflug tatsächlich Heilung an meiner Schulter zu passieren, darum vielleicht das Zucken, Kribbeln und Ziehen. Kein Herzinfarkt, sondern wunderbare, geschenkte Heilung! Andererseits meldete sich meine erschreckte, verunsicherte Seele und meine Gedanken und Nerven, welche sich im Krieg gegen das Altwerden aufbäumten. Altwerden und Herzinfarkt... ein gelungenes Zusammenspiel der Gedanken!

Dieses Erlebnis macht mir neuen Mut, meinem Gott und Schöpfer auch Heilung zuzutrauen, egal was meine Seele gerade fühlt. Gott hat noch so viele Überraschungen für mich bereit! Mir wird aber auch bewusst, dass ich noch lernen muss, wirklich körperliche Probleme von seelischen Auswirkungen zu unterscheiden. Eine kribbelnde, heilwerdende Schulter und ein angsterfülltes Herz das rast… nicht gleich Herzinfarkt! Vielleicht bringt ja gerade das Altwerden diese Weisheit und Erkenntnis mit sich.