Die beste Ehe ist die unvollkommene

Aus dem Buch: «Ich bin nicht mehr die Frau, die du geheiratet hast.»
Dr.med.Ago Bürki-Fillenz war Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Zürich

Es ist bekannt, dass physiologisch gesehen Frauen und Männer einander ähnlich sind, bis hin zu den Sexualhormonen. Trotzdem gibt es keine Frau (und auch keinen Mann), die nicht schon in Tränen oder Wut empfand: Ich verstehe dich nicht. Denn Frauen und Männer leben in vielen Belangen in anderen Welten. Diese können nur durch Brücken verbunden werden.

Es gibt viele Brücken, die tragfähig sind: das Gespräch des Herzens, gemeinsames Träumen und Handeln, sexuelle Freude, gemeinsames Engagement für eine Sache, Freude am Schönen, Kampf gegen Elemente der Zerstörung in der Welt, Liebe zu den Kindern, Einsatz für ein Ziel, gemeinsame Arbeit, ja auch gemeinsames Leiden - und all das, was für beide gut ist.

Man muss die Brücken von beiden Seiten her bauen. Die einen sind schmal und können kaum belastet werden. Andere umfassen Wesentliches und sind tragfähig. Es gibt Brücken, die einstürzen und durch neue ersetzt werden müssen. Und wenn die Beziehung lebendig bleiben soll, ist es nötig, immer wieder neue Brücken zu bauen bis ans Ende, manchmal mit Freude, manchmal mit Mühsal. Denn die Qualität einer Partnerschaft zeigt sich in ihren Brücken.

Und trotzdem - ein Rest an Fremdheit wird bleiben. Das Leben und auch die Partnerschaft sind wie eine Rechnung, die nie ganz aufgeht. Der Rest bleibt ein Geheimnis. Wenn es gelingt, dieses Unerklärbare zu akzeptieren und es nicht einander als Schuld oder Versagen anzurechnen, dann kann es gelingen, mit dem Stückwerk, das möglich ist, Zufriedenheit und vielleicht sogar Erfüllung zu finden. Dann werden die Ansprüche, die Enttäuschungen oder die Verbitterung durch das Staunen darüber ersetzt, dass es ein wirkliches Begegnen überhaupt gibt.

Das Geheimnis ist immer die Einmaligkeit des anderen. Die Liebe greift über die Grenze hinaus, über die Grenze des Verstehens und Gelingens, dorthin, wo man sich immer wieder fremd und alleingelassen fühlen wird. Wer das Geheimnis respektieren lernt, wird erfahren, dass wir auch im Niemandsland, wo wir mit dem Nicht-verstehen-Können allein sind, getragen werden.

Begegnen heisst immer, über die Grenze zu gehen. Wenn es diese Grenze nicht gäbe, wäre Begegnung nicht nötig und nicht möglich. Eine Beziehung lebt aus dem Wagnis, immer wieder über die eigenen Hindernisse zu gehen, trotz Enttäuschungen, Rückfälle und Scheitern. Nicht nur der Schmerz ist maßgebend - auch wenn er in den Vordergrund rückt—, sondern die Überwindung des Schmerzes, denn erst diese macht stark. Die Bruchstückhaftigkeit und Beschränktheit gehört zum Menschsein, ebenso wie sein Geheimnis.

Man kann es nicht entkleiden oder enträtseln. Im Gegenteil, es wird größer - und damit auch das Staunen -, je reifer und älter man wird, es verleiht dem alltäglichen Leben und der alltäglichen Beziehung eine Dimension der Tiefe und der Weite. In diese Dimension eingebettet, müssen dann reale Probleme real gelöst werden.

Es gibt Erfüllung, es gibt Zufriedenheit und auch ein tiefes, inneres Einander-Erkennen, aber nicht als Dauerzustand, sondern als Licht-Zeiten, die ein Durchhalten in Durststrecken erlauben.

Es ist Liebe, die so hoffen und sehen lässt.

Die Wandlung hat erst begonnen.

Kösel 4. Auflage 1995, aus dem letzten Kapitel, "ein persönliches Nachwort" [44 KB] . Seite 185 - 187